Tätowierte Nummer eines Auschwitz-Häftlings

Mechtild Brand: Aus Auschwitz zurück

Der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz ist gerade vorbei. Für mich bedeutet dieser Tag vor allem die Erinnerung an Menschen, die dieses Lager überlebt haben und denen ich begegnet bin. Ihre Geschichten sind so unterschiedlich, wie die Menschen selbst. Hier sind zwei davon:

Als ich begann, nach der Geschichte von Juden zu forschen, traf ich 1963 als erste dieser Zeitzeugen auf der Frauenempore der Synagoge in Münster, Inge Cohn. Es entwickelte sich zunächst ein vorsichtiger Kontakt. Bald darauf begann sie von Auschwitz zu berichten, fast Tag und Nacht. Offensichtlich hatte ihr vor mir keiner zugehört. Ich hörte zwar zu, war aber völlig fassungs- und hilflos, wie ich mit diesem Bericht umgehen sollte. Einige Monate später nahm sich Inge Cohn das Leben, ein Schock für mich, für lange Zeit.

Zwei Jahre später reiste ich auf Einladung Hammer Juden das erste Mal nach Israel.  Noch strotzte das Land vor Selbstbewusstsein, dass mit Juden „Staat zu machen sei“. In Bussen und Straßen sah ich oft die eintätowierten Lagernummern auf den Armen. Deutsche waren damals noch selten im Land. Man begegnete mir sehr freundlich, und es entspannen sich mit wildfremden Menschen Gespräche über den Holocaust.

Der Nachbar von Freunden bat eines Tages um meinen Besuch. Shlomo Levy hatte in seinem Leben fast alls verloren, was ein Mensch nur verlieren kann. Er war der einzige Überlebende einer großen Familie. Auch seine Frau, die er in Auschwitz getroffen hatte, war von ihrer Familien allein übriggeblieben. Sie war an den Folgen der Haft verstorben. Ihr einziger Sohn war bei der israelischen Armee tödlich verunglückt. Nun war er bettlägerig krank, allein, auf Nachbarn angewiesen. Ich traute mich nicht, die Einladung abzulehnen.

Shlomo Levy freute sich offensichtlich über meinen Besuch – und wollte über die Zukunft von Deutschen und Israelis, von Juden und Christen reden. Nachdem ich in den Jahren vor dieser Reise viel über christlichen Judenhass gelernt hatte, angefangen mit den vom Lateran-Konzil (1215) erfundenen Kennzeichnungen von Juden fortgesetzt mit den Morden während der Kreuzzüge (um 1350) , das Ohrfeigen des vornehmsten örtlichen Juden im Karfreitags-Gottesdienst bis hin zu Luthers Schrift „Wider die Sabbather“ war ich eher damit beschäftigt, mich vom Christentum zu verabschieden. Shlomo Levy fand das bald heraus, sah mich lange an und gab mir einen Rat: „Es ist nicht wichtig, wie Du betest. Es ist wichtig, dass Du betest!“

Der alte Mann hatte sehr klare Meinungen über Waffen, Kriege und nationale Rechtsansprüche. Er versäumte es nie, immer auch über die andere Seite in einem Konflikt nachzudenken. Seine Bereitschaft zum Frieden war überwältigend. Ich bin ihm nur in diesem einen Sommer begegnet und verdanke ihm entscheidende Weichenstellungen für mein Leben.

Beitragsbild aus „Kennzeichnung der Häftlinge in den Konzentrationslagern“ (de.wikipedia.org, Stand 21.01.2021)