Rollstuhl

Mechtild Brand: Friedlich entschlafen?

Das Altenheim ruft früh am Morgen an und teilt mit, dass Herr E., für den ich seit einiger Zeit als Betreuung eingesetzt bin, in der Nacht verstorben ist. Er sei im Schlaf gestorben und sei – Gott sei Dank – friedlich eingeschlafen.

Auch ich bin erleichtert, denn er war kein einfacher Patient, ein Pflegefall, den man nicht im Bett halten konnte und vor dem seine schwachen Mitbewohner auf der Pflegestation Angst hatten. Aber irgendwann kommt mir zu Bewusstsein, dass der Verstorbene vielleicht uns jetzt in Frieden lässt. Aber dass er in Frieden eingeschlafen ist, kann ich mir – ehrlich gesagt – nicht vorstellen. Dagegen spricht ein Leben, in dem er nie Frieden gefunden hat.

Geboren in eine der Sintifamilien, die im Südsauerland heimisch waren, verbrachte er eine arme, aber immerhin geborgene Kindheit in dem Marketenderwagen, mit dem seine Eltern als Korbmacher von Markt zu Markt zogen. Mit dem Beginn der NS-Zeit änderte sich alles. Seine Familie hatte kaum noch Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen. Aber immerhin holte ihn die Reichswehr, und bei Kriegsbeginn wurde er Soldat. So war seine engste Familie wenigstens versorgt, denn er hatte geheiratet, und die ersten Kinder waren geboren. Doch Ende 1941 wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen, denn der Rassenwahn der Nazis ließ keine „Zigeuner“ im Waffenrock zu. Also kehrte er zu seiner Familie zurück, die inzwischen in Dortmund auf einem Lagerplatz wohnte, den sie nicht mehr verlassen durfte.

Anfang 1942 wurde ein Verwandter verhaftet und in das berüchtigte Dortmunder Gefängnis Steinwache gebracht, aus dem er einige Tage später entfliehen konnte. Als er mit Handschellen auf dem Lagerplatz wieder ankam, sägten Herr E. und sein Bruder die Fesseln auf und wurden dabei von der Gestapo erwischt. „Gefangenenbefreiung“ lautete die Anklage, für die sie nun in die Steinwache eingeliefert wurden. Man fesselte die Brüder aneinander, verprügelte aber immer nur einen von ihnen, wenn man zuschlug. In einer Art Schauprozess wurden beide verurteilt und als „Asoziale Elemente“ in das Konzentrationslager Flossenbürg verschleppt. Herr E. wurde später in das Männerlager Ravensbrück und dann nach Sachsenhausen überstellt. Da er ein sehr kräftiger Mann und trotz der Haftzeit noch einigermaßen gesund geblieben war, wählte man ihn für medizinische Versuche aus.Der U-Boot-Krieg war voll entbrannt, und das Reich machte sich Sorgen um U-Boot-Besatzungen im Nordmeer. Also geriet Herr E. in die Tiefkühlversuche, die man im Lager unternahm, um herauszufinden, wie lange ein Mensch im eisigen Wasser überleben kann. Herr E. überlebte und durfte kurz vor Kriegsende das Konzentrationslager „freiwillig“ verlassen. Die SS stellte eine Einheit für den Volkssturm auf, die Einheit Dirlewanger, in der KZ-Häftlinge nun fürs Vaterland kämpfen sollten. Herr E. meldete sich, um bei der ersten Gelegenheit zu fliehen. Eine Uniform wollte er nie mehr tragen. Aber der Fluchtversuch misslang, und er wurde angeschossen. Diese Verletzung hat ihn in den letzten Jahren seines Lebens fast
gehunfähig gemacht und an den Rollstuhl gefesselt.

Nach Kriegsende musste Herr E. feststellen, dass nicht nur seine Frau und seine sechs Kinder in Auschwitz ermordet wurden, sondern noch viele andere Verwandte. Von diesem Zeitpunkt an bestimmten blinde Wut und abgrundtiefes Misstrauen sein weiteres Leben. Bis in die letzten Reste seines Bewusstseins hat er immer wieder die Geburtsdaten der Ermordeten aufgesagt. In den ersten Nachkriegsjahren, als er sich körperlich etwas erholt hatte, versuchte er, sich mit wilden Motorradfahrten und viel Alkohol abzureagieren. Der einzige KZ-überlebende Bruder kam dabei durch einen Verkehrsunfall um. Die zweite Ehe blieb kinderlos, und er fand eigentlich nie in ein einigermaßen gesichertes und geordnetes Leben und zu einem freundlichen Umgang mit anderen Menschen zurück. Deshalb blieb am Ende auch nur das Altenheim.

Die Entschädigungsrente, auf die er Anspruch hatte, wurde abgelehnt. „Gefangenenbefreiung“ sei ein strafrechtlicher Tatbestand gewesen, keine rassische Verfolgung, hieß die zynische Begründung. Ob drei Jahre Konzentrationslager und die Ermordung der Familie eine entsprechende Bestrafung waren, wurde schon nicht mehr in Frage gestellt.
Als Herr E. ins Altenheim eingewiesen wurde, erzählte ihm ein Mitbewohner stolz von seiner Zeit beim Militär. Er hätte ihn am liebsten erwürgt. Auf jeden Fall hat er von diesem Tag an versucht, so oft wie möglich dem Altenheim zu entfliehen. Mit eisernem Willen hat er es sogar noch geschafft, ein wenig Kontakt außerhalb des Heimes zu finden. Aber er hat nie mehr zu lachen  gelernt. Alles, was ihn hätte freuen können, wurde sofort von dem Gefühl überschattet, dass die Frau und die Kinder und all die andern nicht da waren. Und dann zählte er wieder die Geburtsdaten der Toten auf.

Wir haben Herrn E. zu Grabe getragen. Der Wunsch, er möge in Frieden ruhen, hat nach diesem  Leben eine besondere Bedeutung.

Quelle Beitragsbild: Patrick De Boeck von Pexels.