Aus dem Hausbriefkasten fällt ein Brief aus Argentinien. „Endlich!“ denke ich und sehe sofort, dass die Schrift noch krakeliger geworden ist als beim letzten Mal. Die Schreiberin ist über 90 Jahre alt, stark sehbehindert und seit dem Tod ihres Mannes vor einigen Jahren sehr einsam in der Riesenstadt Buenos Aires.
Die alte Frau und ich haben etwas gemeinsam: Wir sind in derselben Stadt geboren und darum kennen wir uns. Sie ist Jüdin, und als ich geboren wurde, war sie längst aus Hitlerdeutschland geflohen. Sonst hätte sie nicht überlebt. Sie hat es auch geschafft, ihren Eltern und Geschwistern zur Flucht zu verhelfen. Nur eine Schwester hat sie nicht retten können. Die über alle Erdteile verstreuten Geschwister haben fest zusammengehalten. Aber nun sind sie zu alt, um sich noch gegenseitig zu besuchen. So vereinsamt jeder in einem anderen Land.
Die Briefe erzählen in dürren Worten von einem Alltag, den Friedel Kirchheimer kaum noch ertragen kann. Sie traut sich nicht mehr auf die Straße, weil sie mehrmals von Straßenkindern beraubt worden ist. Die Hausangestellte zweigt bei den Einkäufen regelmäßig etwas für ihre Familie ab, was sie weiß und duldet. Aber die Inflation frisst ihre kleine Rente immer schneller auf, und bis zu ihrer Ausreise aus Deutschland hat sie kaum Rentenansprüche erwerben können. Die Kinder und Enkel kommen kaum, denn sie haben mehrere Jobs, um den Lebensunterhalt abzusichern.
Als wir uns kennen lernten, war Friedel Kirchheimer zu einem Besuch in ihrer Heimatstadt. Ich begleitete sie auf den Wegen in die Vergangenheit: vor das Elternhaus, das heute Fremden gehört, die sie nicht hineinließen, vor die Schule, in der sie als erste Schülerin der Stadt das Abitur bestand, vor das Polizeipräsidium, in dem ihr Vater nach dem Novemberpogrom festgehalten wurde – wir haben die Stadt viele Stunden gemeinsam durchwandert, und neben einem Brunnen hat sie mir die alten Kastanien gezeigt, unter denen sie als Kind gespielt hat. Als ich damals bemerkte, ich hätte nie etwas Besonderes an den Bäumen entdecken können, antwortete sie nachdenklich: „Du hast sie auch nicht verloren!“
Friedel Kirchheimer bittet im Brief um ein Foto dieser Bäume. Sie schreibt, dass sie nicht mehr über die täglichen Probleme nachdenken will, weil sie sie nicht mehr lösen kann. Aber das sei in ihrem Alter auch nicht mehr so wichtig. Aber die Kastanien erinnern sie an eine Zeit, die sie sich täglich mehr zurückholen möchte. „Kannst du mir mehrere Briefe mit Fotos schicken?“ fragt sie. „Du weißt, dass viel Post verlorengeht.“
Ich bin sofort losgefahren, um die Bitte zu erfüllen. Aber die Bäume sind nicht mehr da. Auf dem Platz, auf dem sie standen, wird gebaut. Jetzt werde ich Friedel Kirchheimer schreiben müssen, dass es die Zeichen ihrer guten Erinnerungen nicht mehr gibt.
Quelle Beitragsbild: Buenos Aires von unsplash.com/photos/z0A_IsZYXfM