Der Tag ist heiß gewesen auf dem Wohnwagenplatz der Sinti. Noch ist es hell, und einige Kinder haben ihre Gitarren geholt, hocken auf der Kante des Sandkastens und spielen. Seit einiger Zeit lernen sie die Lieder und Melodien ihres Volkes und sind stolz auf ihre Fortschritte. Die Erwachsenen stehen um sie herum, klatschen, singen mit und freuen sich an den Jungen und dem einzigen Mädchen mit den Instrumenten.
Plötzlich stürzt ein alter Mann auf die Kinder zu, lacht, schlägt sich auf die Schenkel, dreht sich und beginnt zu tanzen. Dabei ruft er immer wieder dieselben Worte in seiner Sprache, die ich nicht verstehe. „Der ist schon wieder besoffen!“ sagt die Frau hinter mir. Ihr hartes Leben hat die Menschen auch untereinander hart gemacht. Ich erschrecke, denn der alte Mann trinkt, um die quälenden Nächte auszuhalten, wenn die Bilder aus den Lagern des Dritten Reichs zurückkommen, die er als einziger von elf Geschwistern überlebt hat. Aber ich glaube nicht, dass er betrunken ist, und frage, was er immer wieder ruft. Die Frau antwortet mir: „Er sagt: Die Lieder sind wiedergekommen!“ Die Lieder sind wiedergekommen? Mir fällt ein, was die andern von dem alten Sinto erzählt haben. Zusammen mit den Brüdern hatte er vor dem Krieg musiziert. Vor dem Transport nach Auschwitz haben sie ihre Instrumente zerschlagen. Er hat nie wieder eins angefasst.
Das einzige Mädchen der Gruppe ist die Urenkelin des Alten. Die beiden mögen sich, und das Mädchen will ihm die Gitarre reichen. Da bleibt er stehen, das Gesicht ist plötzlich versteinert. Er dreht sich um und verschwindet im Wohnwagen. Die Lager sind im Leben des alten Sinto immer gegenwärtig. Wenn er etwas zu essen sieht, kann er sich nicht beherrschen. Er fühlt wieder den Hunger. Die andern geben ihm, was er will, auch wenn es ihn noch kränker macht. Seine Frau ist früh an KZ-Folgen gestorben. Seine einzige Tochter wurde im Nachkriegsdeutschland ermordet, und die Enkel hat er allein großgezogen. Jetzt ist er krank, oft unleidlich und schwierig, und mir, der Deutschen, misstraut er gründlich.
Einige Wochen danach. Die Kinder musizieren regelmäßig weiter. Der alte Mann hört von fern zu, und manchmal sehe ich, wie das Mädchen dem Urgroßvater etwas vorspielt. Er beginnt, ihr ein paar Griffe zu zeigen. Monate später nimmt er zum ersten Mal die Gitarre in die Hand. Die Urenkelin strahlt ihn an, und nur für sie beginnt er, leise zu singen.
Die Lieder sind wiedergekommen. Sie haben das Leben des alten Mannes verändert. Er trinkt viel weniger, und manchmal lacht und winkt er sogar, aber aus sicherer Entfernung.